Nachhilfe aus dem Bildungspaket bei Legasthenie


, ,
Das Sozialgericht Braunschweig S 17 AS 4125/12 hat mit Urteil vom 08.08.2013 entschieden, dass ein 16-jähriger Sohn von Hartz 4-Empfängern einen Anspruch auf Nachhilfe hat. Dies gilt nicht nur, wenn die Versetzung konkret gefährdet ist, sondern auch, wenn das Erreichen des geforderten Lernniveaus nicht gesichert ist.
Das Gericht hat damit auf ein zu erstrebendes Bildungsniveau und nicht lediglich auf die Versetzung abgestellt.
Ich hoffe, dass  zukünftig weitere Gerichte diese schul- und lebensnahe Einstellung zur Grundlage ihrer Entscheidungen machen.

Das Sozialgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet (bearbeitet und gekürzt):

Gemäß § 28 Absatz 5 SGB II wird bei Schülern eine schulische Angebote ergänzende angemessene Lernförderung berücksichtigt, soweit diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen. (…)

Die Voraussetzungen für eine Förderung nach § 28 Absatz 5 SGB II liegen vor. Der Kläger ist Schüler und hilfebedürftig im Sinne des SGB II. Bei dem vom Kläger in Anspruch genommenen Nachhilfeunterricht handelt es sich um eine Lernförderung, die das Angebot der Schule, die der Kläger besucht, ergänzt. In seiner Schule wird keine entsprechende Förderung angeboten.

Bei der Entscheidung, ob die Lernförderung geeignet und erforderlich ist, ist eine auf das Schuljahresende bezogene prognostische Einschätzung unter Einbeziehung der schulischen Förderangebote zu treffen (BT-Drs. 17/3404, S. 105).

Hier ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Kläger bereits im Zeitraum von Februar bis Juni 2012 Nachhilfe im Fach Englisch erhalten hat. Seine Note in Englisch hat sich danach nicht verbessert. Dennoch ist der Nachhilfeunterricht für das Fach Englisch für den Kläger geeignet, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen. Es wird zwar vertreten, dass eine Lernförderung nicht geeignet ist, wenn der bisher bereits in Anspruch genommene Nachhilfeunterricht nicht zu einer Verbesserung der Leistungen führte (SG Frankfurt, Beschluss vom 05.05.2011, S 26 AS 463/11 ER, zit. nach juris). Jedoch ist immer auf den konkreten Einzelfall abzustellen. Nicht allein entscheidend ist, dass sich die Schulnote verbessert. Ziel der Lernförderung kann es auch sein, dass sich die Note nicht verschlechtert. Zudem ist wesentliches Lernziel nicht nur die Versetzung in die nächsthöhere Klasse, sondern z. B. auch das Erreichen eines ausreichenden Leistungsniveaus. Dieses ergibt sich aus den schulrechtlichen Bestimmungen (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.02.2012, a.a.O.). Auch in der Gesetzesbegründung zu § 28 Absatz 5 SGB II findet sich diese Auffassung bestätigt. So wird dort ausgeführt: “ Die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Lernförderung bezieht sich auf das wesentliche Lernziel, das sich wiederum im Einzelfall je nach Schulform und Klassenstufe aus den schulrechtlichen Bestimmungen des jeweiligen Landes ergibt. Das wesentliche Lernziel in der jeweiligen Klassenstufe ist regelmäßig die Versetzung in die nächste Klassenstufe beziehungsweise ein ausreichendes Leistungsniveau“ (BT-Drs. 17/3404, S. 105).

Gemäß § 10 Absatz 1 des Niedersächsischen Schulgesetzes (NSchG) vermittelt die Realschule ihren Schülerinnen und Schülern eine erweiterte Allgemeinbildung, die sich an lebensnahen Sachverhalten ausrichtet sowie zu deren vertieftem Verständnis und zu deren Zusammenschau führt. Sie stärkt selbständiges Lernen. In der Realschule werden den Schülerinnen und Schülern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit und ihren Neigungen eine Berufsorientierung und eine individuelle Schwerpunktbildung in den Bereichen Fremdsprachen, Wirtschaft, Technik sowie Gesundheit und Soziales ermöglicht. Das Angebot zur Schwerpunktbildung richtet sich nach den organisatorischen, personellen und sächlichen Gegebenheiten der einzelnen Schule; es sind mindestens zwei Schwerpunkte anzubieten. Die Schülerinnen und Schüler werden in der Realschule befähigt, ihren Bildungsweg nach Maßgabe der Abschlüsse berufs- oder studienbezogen fortzusetzen.

Um eine erweiterte Allgemeinbildung zu erhalten, selbständig lernen zu können und die Befähigung zu erlangen, seinen Bildungsweg berufs- oder studienbezogen fortzusetzen ist es notwendig, auch die Fertigkeiten im Lesen und Schreiben – im Rahmen der persönlichen Möglichkeiten – ausreichend zu erlernen, insbesondere auch in der Fremdsprache Englisch. So ist gewährleistet, dass der Schüler die Bildung erlangt, die er für seinen künftigen Berufsweg benötigt. Er ist auch dann in der Lage, sich Sachverhalte selbständig zu erschließen. Ausreichende Kenntnisse in der Fremdsprache Englisch werden vielen verschiedenen Lebens- und Berufsbereichen vorausgesetzt.

Der Kläger hat während seiner Legasthenietherapie zwar bestimmte Fertigkeiten erlernt, um mit seiner Lernbehinderung besser umzugehen. Allerdings lässt sich die Lese- und Rechtsschreibschwäche nie vollständig beheben, so dass er weiterhin Schwierigkeiten beim Schreiben von eigenen Texten und Lesen neuer Texte hat und haben wird. Dieses wird jedoch gerade in höheren Klassen von ihm verlangt. Im Schulfach Englisch kann er sein Defizit auch nicht (mehr) durch vorangegangenes Erlernen der Vokabeln, insbesondere deren Schreibweise, allein kompensieren. Durch den Nachhilfeunterricht – hier für Englisch – hat der Kläger die Möglichkeit, den neuen Stoff des Unterrichts mit seiner Nachhilfelehrerin aufzuarbeiten, um so keine oder zumindest weniger Lücken aufzubauen. Die Nachhilfe durch eine ältere Schülerin ist dafür nach Auffassung des Gerichts geeignet. Diese kennt den genauen Lernstoff der jeweiligen Klassenstufe und tauscht sich mit der Englischlehrerin des Klägers aus.

Der Nachhilfeunterricht für das Fach Englisch ist für den Kläger auch zusätzlich erforderlich, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen. Nach Überzeugung des Gerichts kann der Kläger nicht in gleicher Weise allein den Stoff der Unterrichtsstunde, den er nicht oder nicht ausreichend verstanden hat, nacharbeiten. Dazu benötigt er Hilfe. Seine Eltern oder andere Angehörige können ihm in diesem Fach nicht helfen. Seine Mutter kann nur die Nachhilfe für das Fach Deutsch übernehmen.

Dass die Schule dem Kläger einen Nachteilsausgleich gewährt, unabhängig davon, ob er privaten Nachhilfeunterricht nimmt, führt nicht dazu, dass die Lernförderung in Englisch nicht erforderlich ist. Aus Nr. 4.1 des Runderlasses des Niedersächsischen Kultusministeriums vom 04.10.2005 (SVBl. 11/2005, S. 560 – VORIS 22410) ergibt sich, dass Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben in der Regel den für alle Schülern geltenden Maßstäben der Leistungsbewertung unterliegen. In besonders begründeten Ausnahmefällen kann von den allgemeinen Grundsätzen abgewichen werden. Abweichungen können danach insbesondere die stärkere Gewichtung mündlicher Leistung, insbesondere in den Fremdsprachen und der zeitweilige Verzicht während der Förderphase auf eine Bewertung der Lese- und Rechtschreibleistung sein. Vorrangig vor dem Abweichen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsfeststellung ist allerdings – wie im Fall des Klägers – eine Hilfe im Sinne eines Nachteilsausgleichs, die auf den Stand der Lernentwicklung des Schülers abzustimmen sind. Als Hilfen im Sinne eines Nachteilsausgleichs gelten insbesondere eine Ausweitung der Arbeitszeit, z.B. bei zu zensierenden schriftlichen Lernkontrollen, Entwickeln einer dem individuellen Lernstand angepasste Aufgabenstellung und das Einordnen der schriftlichen und mündlichen Leistung unter dem Aspekt des erreichten Lernstands mit pädagogischer Würdigung. Die Gewährung eines Nachteilsausgleichs allein ist aber nicht ausreichend, um das oben beschriebene Leistungsniveau zu erreichen. Für den Kläger ist es wichtig, dass er effektiv den Stoff des Unterrichts nacharbeiten kann. Dann ist er auch in der Lage, sich weiteres Wissen anzueignen, um das ausreichende Leistungsniveau zu erreichen oder zu halten. Hinzu kommt, dass sich dadurch auch positive Auswirkungen auf seine mündlichen Leistungen im Unterricht einstellen dürften, die Schwierigkeiten im schriftlichen Bereich sich ggf. verringern oder aber zumindest weiter kompensiert werden. Nicht zuletzt kommt es im Fall des Klägers auch darauf an, dass er weiterhin seine Lernbehinderung akzeptiert, mit seinen Einschränkungen umgehen kann und dennoch sein Engagement und seine Motivation beim Lernen nicht verliert. Nach Auffassung des Gerichts war die vom Kläger begehrte Lernförderung aus den ausgeführten Gründen sowohl im Schuljahr 2012/2013 geeignet und erforderlich und ist es auch im Schuljahr 2013/2014. Der Kläger hat seinen Begehren zeitlich bis zum Abschluss der schriftlichen Prüfungen begrenzt. Anhaltspunkte dafür, dass die Kosten in Höhe von 180,00 EUR für 36 Nachhilfestunden für das Schuljahr 2012/2013 und von 5,00 EUR pro Woche im Schuljahr 2013/2014 (mit Ausnahme der Schulferien bis zu den schriftlichen Prüfungen) unangemessen sind, liegen nicht vor. Der Beklagte trägt auch nichts Entsprechendes vor. (…)

Print Friendly, PDF & Email

Stress mit dem Arbeitgeber oder Ärger mit dem Jobcenter?
Ich höre Ihnen gut zu, berate und setze mich rasch und engagiert für Ihre Rechte ein.
Ihr Rechtsanwalt Stephan Felsmann aus Kiel
Tel: 0431-78029790

Ihre Meinung zu...

Name und E-Mail Adresse sind nötig. Die E-Mail Adresse wird niemals veröffentlicht.


2024 © Rechtsanwalt in Kiel Rechtsanwalt Felsmann Anwalt in Kiel – Arbeitsrecht – Kündigungsschutz – Fachanwalt Sozialrecht

Impressum || Datenschutz || AGB