Vertrauensschutz für Hartz IV-Empfänger bei Überzahlungen


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Ist für Bezieher von Arbeitslosengeld II anhand der Bewilligungsbescheide nicht ohne weiteres erkennbar, dass die Grundsicherungsbehörde Einkommen unzureichend angerechnet hat, darf die Behörde Überzahlungen für zurückliegende Zeiträume nicht zurückverlangen. Das hat entschied das Sozialgericht Dortmund – S 28 AS 228/08 -entschieden.

Die Eltern hätten die erforderliche Sorgfalt nicht in besonders schwerem Maße verletzt, so dass ihre Unkenntnis von der Überzahlung nicht auf grober Fahrlässigkeit beruhe. Sie hätten davon ausgehen dürfen, dass die Behörde ihre Angaben zum Kindergeld vollständig berücksichtige. Wegen der komplizierten Gestaltung der Bewilligungsbescheide und der schwankenden Leistungshöhe auf Grund der Anrechnung wechselnder Erwerbseinkommen sei die fehlerhafte Berechnung der Leistungen für einen juristischen Laien nicht augenfällig gewesen.

Aus dem Urteil (bearbeitet und gekürzt):

Sozialgericht Dortmund, Urteil vom 22.07.2009, Az.: S 28 AS 228/08

Sachverhalt:

Die Kläger stehen seit dem 01.01.2005 im Leistungsbezug bei der Beklagten. In ihrem Antrag auf Leistungen nach dem SGB II vom 18.08.2004 gaben die Kläger an, dass sie als Einkommen 154,00 EUR Kindergeld beziehen. Darüber hinaus verdiene die Klägerin zu 1) monatlich 325 EUR aus einer Erwerbstätigkeit bei der Firma xx. Der Kläger zu 2) beziehe Arbeitslosengeld I.

(…) Am 30.03.2007 stellten die Kläger wiederum einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II. In diesem Antrag gaben sie an, dass ein Anspruch auf Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR und ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I bestehe. Das Beschäftigungsverhältnis mit der Firma xxx endete zum Ablauf des 15.04.2007 durch arbeitsgerichtlichen Vergleich.

Mit Bescheid vom 17.04.2007 änderte die Beklagte den Bescheid vom 23.06.2006 nochmals ab, indem sie für den Leistungszeitraum 17.10.2005 – 30.04.2006 die genauen Löhne der Kläger zu 1) und 2) berücksichtigte. Die Anrechnung des Kindergeldes unterblieb vollständig. Mit weiterem Bescheid vom 17.04.2007 bewilligte die Beklagte für den Zeitraum vom 01.06.2007 bis zum 30.11.2007 Leistungen nach dem SGB II ohne das Kindergeld bedarfsmindernd zu berücksichtigen. (…)

Entscheidungsgründe:

Die Kläger können sich jedoch auf Vertrauensschutz i. S. d. § 45 Abs. 2 SGB X berufen. Nach dieser Vorschrift darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand eines Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann, vgl. § 45 Abs. 2 S. 1 SGB X. So liegt der Fall hier. Der Kläger zu 2) hat vorgetragen, die überzahlten Leistungen bereits vollständig ausgegeben zu haben. (…)

Nach dem persönlichen Eindruck, den die Kammer von den Klägerin zu 1) und 2) in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, ist festzustellen, dass eine grobe Fahrlässigkeit in Bezug auf die überzahlten Leistungen zu verneinen ist. Die Kläger zu 1) und 2) haben die ihnen obliegenden Sorgfaltspflichten nicht in einem besonders schweren Maße verletzt.

Grundsätzlich trifft den Begünstigen, der zutreffende Angaben gemacht hat, keine Verpflichtung, Bewilligungsbescheide des Näheren auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Er darf dann davon ausgehen, dass die Behörde seine Angaben vollständig berücksichtigt. Das Bundessozialgericht führt hierzu in der vorgenannten Entscheidung aus: „Auch bei Berücksichtigung der Vielfalt von Aufgaben und der Vielzahl der zu bearbeitenden Vorgänge ist es aber gerade die Aufgabe der Fachbehörde, wahrheitsgemäße tatsächliche Angaben von Antragstellern rechtlich einwandfrei umzusetzen …“. Dies führt jedoch nicht dazu, dass den Begünstigten keinerlei Sorgfaltspflichten bei Erhalt einer Verwaltungsentscheidung treffen. Dies widerspräche dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben. Aus diesem lässt sich herleiten, dass die Beteiligten im Sozialrechtsverhältnis verpflichtet sind, sich gegenseitig vor vermeidbarem Schaden zu bewahren. Diesem Grundsatz entspricht es, dass der Begünstigte rechtlich gehalten ist, den Bescheid zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. In diesem Rahmen ist der Begünstigte zunächst gehalten, die im Bewilligungsbescheid formulierte Begründung auch in Form von Zahlenangaben nachzuvollziehen. Die notwendige Folge dieser Obliegenheit ist es dann, dass eine Begründung der Bewilligungsentscheidung, die den in der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt wieder gibt, auch einen rechtlich unkundigen Adressaten auf die Fehlerhaftigkeit der Bewilligung aufmerksam machen muss, soweit diese augenfällig ist. Der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit verlangt in diesen Fällen jedoch, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Fehler aus dem Bescheid selbst oder aus dessen Begleitumständen (z. B. Merkblatt) ergeben und für den Adressaten unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichtsfähigkeit augenfällig sind. Ergeben sich aufgrund dieser Kontrolle Zweifel an der Rechtmäßigkeit der ergangenen Entscheidung, besteht daher eine Verpflichtung des Begünstigten, bei der Erlassbehörde nachzufragen.

Mit Blick auf die vorgenannten Voraussetzungen waren die überzahlten Leistungen der Beklagten für die Kläger zu 1 und 2) anhand der Bescheide nicht augenfällig. (…)

Eine Augenfälligkeit in Bezug auf den auf Seite 1 der Bewilligungsbescheide ausgeworfenen Betrag an SGB II – Leistungen ist nicht gegeben. Die Beklagte hat in dem Bescheid vom 30.11.2004 für den Monat Januar 2005 einen Betrag in Höhe von 495,85 EUR, für den Monat Februar 2005 in Höhe von 965,45 EUR, für den Monat März 2005 in Höhe von 118,35 EUR, für den Monat April in Höhe von 1093,95 EUR und für den Monat Mai 2005 in Höhe von 1057,35 EUR bewilligt. (…) Über die genaue Höhe des Anstieges konnten die Kläger zu 1) und 2) kein konkretes Wissen haben, da sie bis zum 30.11.2005 niemals Leistungen ohne anrechenbares Einkommen bezogen hatten. Insofern fehlt es also an einem Vergleichsmaßstab, der die Nichtberücksichtigung des Kindergeldes für die Kläger zu 1) und 2) sichtbar gemacht hätte. (…)

Sind die Kläger aber ihren Mitteilungspflichten ordnungsgemäß nachgekommen, so trifft sie keinerlei Verpflichtung den Bescheid auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.

Aus der Aufhebung der Rücknahmeentscheidung der Beklagten folgt die Rechtswidrigkeit der Erstattungsverfügung gem. § 50 Abs. 1 SGB X. Nach dieser Vorschrift sind bereits erbracht Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. An einer wirksamen Rücknahmeentscheidung fehlt es aber gerade. (…)

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