LAG Bremen: Arbeitgeber muss bei Verdachtskündigung Tatsachen zum Zeitpunkt der Kündigung ermittelt haben


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Das Landesarbeitsgericht Bremen – 4 Sa 53/08 – hat entschieden, dass ein Arbeitgeber bei einer Verdachtskündigung die Tatsachen die Ihn zur Kündigung berechtogten zum Zeitpunkt der Kündigung ermittelt haben und dann im Prozess substantiiert vortragen. Es ist nicht ausreichend die Tatsachen erst im Prozessverlauf zu ermitteln.


Aus dem Urteil (bearbeitet und gekürzt):

Sachverhalt:
Mit ihrer am 28.06.2007 beim Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven eingegangen Klage wendet die Klägerin sich gegen eine fristlose, hilfsweise fristgerechte Kündigung der Beklagten. Die Klägerin ist seit dem 01.04.1994 nebenberuflich als Pflegekraft bei der Beklagten, die einen ambulanten Pflegedienst betreibt, beschäftigt. Das durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt liegt bei € 520,00 pro Monat. Bei der Beklagten sind rund 40 Mitarbeiter beschäftigt; es besteht ein Betriebsrat. Mit Schreiben vom 18.06.2007, das der Klägerin nach ihrer Darstellung am 19.06.2007 zuging, nach dem Vortrag der Beklagten ihr jedoch am 18.06.2007 per Boten überbracht wurde, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos, hilfsweise fristgerecht zum nächstmöglichen Termin. Wegen des Inhalts des Kündigungsschreibens wird auf Bl. 4 d. A. verwiesen. Die Tätigkeit der Klägerin besteht darin, Patienten zu Hause zu pflegen und zu versorgen. Für die Pflegekräfte, so auch für die Klägerin, werden bei der Beklagten täglich Einsatzpläne gefertigt, auf denen die zu pflegenden Patienten mit den zu erledigenden Aufgaben aufgeführt werden. Auch ist die jeweilige Uhrzeit angegeben, in welchem Zeitraum die Patienten zu versorgen sind. Die Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter haben dann die zu erledigenden Arbeiten auf dem Einsatzplan abzuzeichnen, so dass die Beklagte in die Lage versetzt wird, dem Patienten oder dem Leistungsträger entsprechend die Leistungen in Rechnung zu stellen. Auf den Einsatzplänen sind von den Mitarbeiterinnen bzw. Mitar-beitern der Beginn und das Ende der täglichen Arbeitszeit aufzuschreiben. Anhand dieser Informationen werden die Arbeitsstunden berechnet und die Lohnabrechnungen erstellt. Dies gilt auch für die Klägerin. (…)
Der Klägerin wird vorgeworfen diese Eintragungen zu ihren Gunsten falsch gemacht zu haben.

Entscheidungsgründe:
(…) Nach dem eigenen Vortrag der Beklagten war am 18. bzw. 19.06.2007, dem Tag des Zugangs der Kündigung, weder ein dringender Tatverdacht gegeben, noch hatte die Beklagte, wenn man dieser Auffassung nicht folgt, ihre Aufklä-rungspflicht, die Voraussetzung für eine Verdachtskündigung ist, erfüllt.
Ein dringender Tatverdacht für einen Arbeitszeitbetrug, der zumindest in der ersten Instanz und auch in der Anhörung des Betriebsrats Kern des Vorwurfes war, ist nicht gegeben. Zwar ist richtig, dass die Klägerin am 02.06.2007 falsche Angaben zu dem Beginn und Ende ihrer Arbeitszeit gemacht hat. Im Ergebnis hat sie aber ihre Arbeitszeit lediglich um eine Stunde verschoben. Denn ihre normale Arbeitszeit endete gegen 11:30 Uhr. Die Kläger wurde aber unstreitig noch um 12:45 Uhr im Lager angetroffen und ließ sich auch zu dieser Zeit noch erklären, wie ein Verband, den sie nach Auffassung der Beklagten bei einer Patientin falsch angelegt hatte, richtig angelegt wird. Die Behauptung der Beklagten, die Klägerin habe „vermutlich“ das Dienstauto dazu benutzt, um auch private Einkäufe zu tätigen, ist durch nichts, aber auch gar nichts, belegt. Tatsachen hierfür hat die Beklagte schon gar nicht vorgetragen. Es handelt sich insoweit um reine Unterstellungen und Vermutungen. Die Beklagte konnte, ohne dass eine weitere Aufklärung erfolgte, deshalb zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung nicht von einem dringenden Tatverdacht ausgehen, sondern lediglich von einer sicherlich pflichtwidrigen Verletzung von Arbeitsvertragspflichten, die dahin geht, den Arbeitgeber davon zu unterrichten, wenn die Arbeit verspätet aufgenommen wird und auch korrekte tatsächlich abgeleistete Arbeitszeiten in den Einsatzplan einzutragen. Diese Verletzung der Verpflichtungen ist allerdings ihrerseits kein Verdachtsmoment, der geeignet ist, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen bei einem verständigen und gerecht abwägenden Arbeitgeber zu zerstören, sondern eine immer wieder vorkommende Pflichtverletzung, die sicher auch mit einer Abmahnung geahndet werden kann. Dabei ist auch die sehr lange – nach dem Vortrag in diesem Rechtsstreit auch im Wesentlichen unbeanstandete – Tätigkeit der Klägerin im Be-trieb der Beklagten zu berücksichtigen. Die Klägerin war zum Zeitpunkt der Kündigung schließlich 13 Jahre für die Beklagte tätig. Ein dringender Tatverdacht des Arbeitszeitbetruges ist mithin nicht gegeben.

Die Beklagte hat darüber hinaus auch nicht alles denkbar Mögliche zur Aufklärung des Vorwurfs des Arbeitszeitbetruges getan, obwohl dies ohne weiteres möglich und auch besonders, wenn die Aufklärung zeitnah zum 02.06.2007 erfolgt wäre, effektiv gewesen wäre. Die Beklagte hätte nämlich, bevor sie die Klägerin mit Vorwürfen, die noch nicht einmal wie oben dargelegt, einen dringenden Tatvorwurf begründen, konfrontiert, die von der Klägerin an diesem Tag zu versorgenden Patienten befragen müssen. Es handelt sich um behinderte und ältere Menschen, deren Erinnerungsvermögen sicher unmittelbar nach einem bestimmten Vorfall noch einigermaßen „in Takt ist“, zumindest besser als nach 2 Monaten. Die Beklagte hätte dann den Vorwurf des Arbeitszeitbetruges mit konkreten Tatsachen und Vorhaltungen machen können. So hat sie allein aus der Tatsache, dass die Klägerin morgens eine Stunde zu spät gesehen wurde, ohne Berücksichtigung, dass die Klägerin aber auch eine Stunde später als ihre Arbeitszeit eigentlich endete, noch im Betrieb war, Rückschlüsse gezogen, die nicht auf Tatsachen begründet waren. Die Verletzung der Aufklärungspflicht führt zur Unwirksamkeit der Kündigung

Auch die Anhörung der Klägerin ist aus diesem Grund nicht ordnungsgemäß erfolgt. In der „Gesprächsnotiz“ vom 12.06.2007 heißt es: „Gesprächsanlass: Verspäteter Dienstbeginn 2.6.2007 um vermut-lich über 60 Minuten, ohne dass Rückmeldung an den Notdienst bzw. PDL erfolgte, außerdem wurde Arbeitszeit auf dem Touren-plan nicht angepasst sondern so wie ihre Tour geplant war notiert.“ Es wurden der Klägerin dann jedoch keine Tatsachen präsentiert, aus der sich der Verdacht des Arbeitszeitbetruges ergab, sondern die Klägerin wurde von Frau L. gebeten, den Sachverhalt zu erklären. Die Klä-gerin hat dann eine in der Tat nicht besonders glaubwürdige Erklärung abgegeben. Aber auch aus dieser Erklärung ergibt sich kein Verdacht für eine Tätigkeit, denn weder sind Beschwerden bei der Beklagten, dass die Klägerin nicht oder nicht ordnungsgemäß an diesem Tag gearbeitet hätte, eingegangen, noch ist erkennbar, aus welchen Tatsachen denn nun die Be-klagte den Arbeitszeitbetrug ableiten will. Es wird sogar in der Gesprächsnotiz darauf hingewiesen, dass Frau P. Frau S. , die Klägerin, um ca. 12:45 Uhr im Lager angetroffen hat und ihr nun erklären konnte, wie „der Verband angelegt wird“. Die weitere Bemerkung, „dass Frau S. auch in der Vergangenheit schon mal nach ihrer Tour mit dem Dienstfahrzeug einkaufen gefahren ist und deshalb auch die Möglichkeit besteht, dass sie dieses am 02.06.2007 auch getan hat und deshalb erst um 12:45 Uhr im Lager war“, ist – wie schon erwähnt – eine reine Vermutung der Beklagten. Die Beklagte selbst hat mithin der Klägerin keine Tatsachen, die auf einen Verdacht des Arbeitszeitbetruges hinweisen – mit Ausnahme des verspäteten Dienstbeginns -, erläutert. Die Beklagte hat ihr auch keine Tatsachen vorgehalten und auch nicht vorhalten können, da eine Aufklärung nicht er-folgt war, die den Arbeitszeitbetrug im Laufe des Tages dadurch, dass die Klägerin bestimmte Patienten nicht angefahren oder versorgt hat, erhärten könnten. Sondern aus den eigenen Erklärung der Klägerin, die diese sicherlich nicht besonders geschickt, um ihre Verspätung zu rechtfertigen, abgegeben hat, ohne mit bestimmten Tatsachen konfrontiert zu sein, schließt die Beklagte nunmehr auf den Arbeitszeitbetrug. Die Erklärungen der Klägerin, die Tatsache, dass keine Beschwerden von den Patienten eingegangen sind, die Tatsache, dass die Klägerin dafür auch um 12:45 Uhr noch im Betrieb war, statt ihre Tätigkeit gegen 11:30 Uhr zu beenden, sind bei dieser Würdigung der Beklagten überhaupt nicht berücksichtigt worden. Wie schon ausgeführt, dass hier Arbeitspflichtverletzungen begangen wurden, die abmahnungswürdig sind, steht außer Frage. Aber es geht nicht um die Frage der Berechtigung einer Abmahnung, sondern um den schwe-ren Vorwurf sich eines Arbeitszeitbetruges verdächtig gemacht zu haben. Auch aus diesen Gründen ist die Verdachtskündigung unwirksam.
Das Nachholen von Aufklärungsmaßnahmen „im laufenden Prozess“ ist unzulässig. (…)

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