SG Mainz Angemessenheitsbegriff der Kosten der Unterkunft verfassungswidrig


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Das Sozialgericht Mainz hat mit Urteil vom 08.06.2012; S 17 AS 1452/09 entschieden, dass die  Konkretisierung des Angemessenheitsbegriffs des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum „schlüssigen Konzept“ nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar ist, wie es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9.2.2010 (Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) näher bestimmt worden ist. Für eine Bestimmung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums durch am einfachen Wohnstandard orientierten Mietobergrenzen fehle es an einer den  Anforderungen des BVerfG genügenden und hinreichend bestimmten parlamentsgesetzlichen Grundlage.

Das Sozialgericht Mainz konkretisiert den Angemessenheitsbegriff deshalb nach Maßgabe des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung in der Weise, dass unangemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II lediglich Kosten der Unterkunft sind, die deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbaren Haushalten im geografischen Vergleichsraum liegen.

Wenn sich diese Rechtsprechung durchsetzt – die Berufung wurde zugelassen – wird dies zu einer deutlichen Erhöhung der angemessenen Kosten der Unterkunft führen. Dies würde dann so lange gelten, wie das Parlament keine gesetzliche Grundlage geschaffen hat.

Das Sozialgericht Mainz begründet seine Entscheidung wir folgt (bearbeitet und gekürzt):

(…) Die Kläger haben im streitigen Zeitraum dem Grunde nach Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 19 SGB II a.F.. Hiernach erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige als Arbeitslosengeld II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung, wobei das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen die Geldleistungen mindert. Die Kläger sind erwerbsfähige Hilfebedürftige in diesem Sinne, weil sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II), zwischen 15 und 65 Jahre alt sind (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II) und Erwerbsfähigkeit vorliegt (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II), d.h. es ist mangels entgegenstehender Anhaltspunkte davon auszugehen, dass sie nicht wegen Krankheit oder Behinderung außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 8 Abs. 1 SGB II). Die Kläger sind auch hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II, was gemäß § 9 Abs. 1 SGB II der Fall ist, wenn jemand seinen eigenen Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus dem zu berücksichtigenden Einkommen und Vermögen (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II), sichern kann und die nötige Hilfe auch nicht von anderen erhält. Dies trifft vorliegend zu, weil dem Bedarf der Kläger zum Lebensunterhalt im streitigen Zeitraum nur ein Erwerbseinkommen in Höhe von monatlich je 100 € gegenübersteht, welches gemäß der Pauschalabsetzungsregelung nach § 11 Abs. 2 S. 2 SGB II a.F. nicht anzurechnen ist.

Nach Überzeugung der Kammer verstößt eine Konkretisierung des Angemessenheitsbegriffs des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II im Sinne einer Begrenzung und Ausgestaltung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums aus den genannten Gründen gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Der Angemessenheitsbegriff des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II selbst ist jedoch einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich. Die Kammer konkretisiert den Angemessenheitsbegriff deshalb nach Maßgabe des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung in der Weise, dass unangemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II lediglich Kosten der Unterkunft sind, die deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbarer Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen.

Im Unterschied zur Regelleistung bzw. zum Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 20 SGB II werden die Unterkunftskosten nach geltendem Recht nach § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II nicht als Pauschalleistung, sondern grundsätzlich in tatsächlicher Höhe übernommen. Soweit die leistungsberechtigte Person tatsächlich eine menschenwürdige Unterkunft bewohnt, ist mit Übernahme der tatsächlichen Kosten das Existenzminimum im Hinblick auf den Unterkunftsbedarf ohne Weiteres gedeckt, ohne dass es einer weiteren Konkretisierung durch den Gesetzgeber bedürfte. Im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums ist somit nur die Begrenzung auf die angemessenen Aufwendungen von Relevanz.

Das Gebot verfassungskonformer Auslegung verlangt, von mehreren möglichen Normdeutungen, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, diejenige vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz im Einklang steht (BVerfG Urt. v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02 – Rn. 92). Die verfassungskonforme Auslegung ist demzufolge keine Auslegungsmethode im engeren Sinne, sondern eine Vorzugsregel, nach welcher bestimmte nach methodisch korrekter Konkretisierungsarbeit gefundene Ergebnisse gegenüber anderen zu bevorzugen sind. Dass der Gesetzgeber die Übernahme der Kosten der Unterkunft und Heizung ausdrücklich unter einen Angemessenheitsvorbehalt stellt, darf demzufolge nicht zum Zwecke der Erhaltung eines verfassungsgemäßen Zustands übergangen, sondern muss einer Konkretisierung zugeführt werden, welche dem Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums mit seinen prozeduralen Implikationen nicht widerspricht.

Eine verfassungskonforme Konkretisierung des Angemessenheitsbegriffs setzt daher voraus, dass sie mit Wortlaut und Systematik des § 22 Abs. 1 S. SGB II vereinbar ist. Dazu muss berücksichtigt werden, dass der Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber zur Bestimmung des Umfangs des Anspruchs auf das unterkunftsbezogene Existenzminimums nicht unterlaufen wird. Demzufolge muss der Angemessenheitsbegriff so konkretisiert werden, dass er eine andere Funktion einnimmt, als die der Bestimmung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums. In semantischer Hinsicht ist hierbei zu berücksichtigten, dass Angemessenheit ein relationaler Begriff ist, d.h. die Angemessenheit einer Leistung, einer Regelung, einer Handlung immer an einem Bezugspunkt zu messen ist. Dieser Bezugspunkt kann wegen einer hiermit einhergehenden Verletzung der Zuständigkeitsverantwortlichkeit des Gesetzgebers nicht das Existenzminimum sein, d.h. nicht „das nach den gesellschaftlichen Anschauungen für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche“ (vgl. BVerfG Urt. v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 – Rn. 138). Im semantischen und systematischen Kontext hat der Angemessenheitsbegriff des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II dennoch eine Begrenzungsfunktion „nach oben“. Diese Begrenzung muss jenseits (im Sinne von oberhalb) des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums für die Bestimmung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums liegen. Da dem Gesetzgeber in dem Bereich, der über die physische Existenzsicherung hinausgeht, ein weiter Gestaltungsspielraum (beispielsweise anhand der Frage, welches Maß an Gleichheit in den Lebensverhältnissen angestrebt wird) zusteht, kann die Angemessenheitsgrenze funktionell nur im Sinne der Missbrauchsverhütung verstanden werden. Eine systematische und dauerhafte Besserstellung von Hilfeempfängern gegenüber Personen ohne Hilfeanspruch im Hinblick auf wäre jedenfalls gleichheitsrechtlich problematisch. Eine sinnvolle und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Funktion des Angemessenheitsbegriffs kann demzufolge sein, die staatliche Leistungspflicht nur in Einzelfällen zu begrenzen, in denen Leistungsberechtigte hinsichtlich ihrer Unterkunft deutlich erkennbar über den (orts-)üblichen Verhältnissen leben.

Dass eine solche Interpretation mit Wortlaut und Systematik des Normtextes vereinbar ist, zeigt sich auch daran, dass das BSG im gleichen semantischen Kontext die Angemessenheit der Heizungskosten ganz ähnlich definiert (BSG Urt. v. 2.7.2009 – B 14 AS 36/08 R: „Anhaltspunkte dafür, dass die Heizkosten unangemessen hoch sind, können sich insbesondere dadurch ergeben, dass die tatsächlich anfallenden Kosten die durchschnittlich aufgewandten Kosten aller Verbraucher für eine Wohnung der den abstrakten Angemessenheitskriterien entsprechenden Größe signifikant übersteigen.“).

Die verfassungswidrige Konkretisierung des Angemessenheitsbegriffs durch das BSG ist demgegenüber methodisch nicht zwingend. Das BSG hat sich mit der Ausrichtung des Angemessenheitsbegriffs auf einfache, grundlegende Wohnstandards zunächst auf die frühere Rechtsprechung des BVerwG zum § 12 BSHG bezogen (BSG Urt. v. 7.11.2006 – Az. B 7b AS 18/06 R). Bestätigung findet die Auffassung des BSG im Gesetzentwurf der damaligen Bundesregierung (BT-Drucks. 15/1516 Teil B Art. 1 Zu § 22 Abs. 1), wonach der Anspruch auf Kosten der Unterkunft und Heizung am Maßstab der Sozialhilfepraxis ausgerichtet werden sollte. Als Nichtnormtext hat die Gesetzesbegründung für die Normkonkretisierung keine absolut begrenzende Funktion. Der Verfassungskonformität ist gegenüber dem entstehungsgeschichtlichen Argument der Vorzug zu geben, da nur der Normtext selbst ein für die Rechtsprechung im Sinne der Gesetzesbindung verbindliches Eingangsdatum im Entscheidungsprozess darstellt.

 

Das BVerwG hat in seiner Rechtsprechung im Übrigen darauf abgestellt, dass (u.a.) nach § 12 Abs. 1 S. 1 BSHG ausschließlich der „notwendige“ Lebensunterhalt geleistet werden müsse, was ausdrücklich auch die Unterkunft umschloss. Die Hilfen zur Sicherung des Lebensunterhalts des BSHG standen damit insgesamt unter einem im Normtext zum Ausdruck gebrachten Notwendigkeitsvorbehalt, welcher in den Regelungen des SGB II nicht enthalten ist. Mit Einführung des SGB II sind auch weitere signifikante Veränderungen gegenüber dem BSHG vorgenommen worden. Neben der stärkeren Pauschalierung der Leistungen in weitgehender Abkehr vom Individualisierungsgrundsatz, welche eine Kompensation von Bedarfsunterdeckungen durch Einzelfallleistungen quasi unmöglich machte, ist insbesondere der Arbeitsförderungsaspekt deutlicher hinzugetreten. In diesem Zusammenhang stehen die großzügigeren Regelungen im Hinblick auf Schonvermögen und Einkommensanrechnung. Insbesondere ist ein selbst genutztes angemessenes Hausgrundstück oder eine entsprechende Eigentumswohnung nicht als Vermögen zu berücksichtigen (§ 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 SGB II), obwohl im Falle einer Verwertung ohne Gefährdung des Existenzminimums erhebliche Einsparungen möglich wären. Die Regelungen zum Vermögen sind auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die Leistungen des SGB II dem gesetzgeberischen Ideal entsprechend nur vorübergehend erbracht werden, der Zustand der Arbeitslosigkeit schnell überwunden werden soll. Deshalb würde es als Härte empfunden, wenn beispielsweise nach inzwischen auf in der Regel auf 12 Monate begrenzte Arbeitslosengeldbezugsdauer sofort die Verwertung des Immobilieneigentums folgen würde. Der Verlust einer seit langem bewohnten Mietwohnung mag allerdings ebenso als Härte empfunden werden. Auch in diesem systematischen Kontext ist es daher vertretbar, dem Erhalt der zu Beginn des Leistungsbezugs bewohnten Wohnung eine hohe Priorität einzuräumen, in dem die Kosten auch unabhängig von kostengünstigeren Alternativen grundsätzlich in voller Höhe berücksichtigt werden (vgl. auch BSG Urt. v. 18.6.2008 – B 14/11b AS 67/06 R: „Der Gesetzgeber räumt dem Erhalt der Wohnung allgemein einen hohen Stellenwert ein, ohne Rücksicht darauf, ob diese gemietet ist oder im Eigentum des Hilfebedürftigen steht“). Ein gewisser Schutz vor Missbrauch bzw. Optimierung kann durch Anwendung des § 22 Abs. 1 S. 2 SGB II erreicht werden. Die durch die Kammer vorgenommene Konkretisierung des Angemessenheitsbegriffs ist somit mit Systematik und Teleologie des SGB II in Einklang zu bringen.

Der Angemessenheitsbegriff ist mithin nicht im Sinne einer stets zu prüfenden an lediglich grundlegenden Bedürfnissen orientierten Angemessenheitsgrenze mit regional und anhand der Zahl der Haushaltsmitglieder festgelegter Höhe zu konkretisieren, sondern als Angemessenheitsvorbehalt, welcher dem Leistungsträger (wiederum unter voller gerichtlicher Kontrolle) ermöglicht, den Leistungsanspruch in Fällen offenkundiger Missverhältnisse zu reduzieren. Dies ist anhand der Besonderheiten des Einzelfalls (§§ 22 Abs. 1 S. 2 SGB II a.F.; § 22 Abs. 1 S. 3 SGB II n.F.) durchzuführen. Unangemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II sind die Aufwendungen für eine Unterkunft daher erst dann, wenn die Kosten deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen.

(…)

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